Rechtsstaatlichkeit:
Was tun gegen die Zerstörung der Fundamente Europas?
von Dr. Wolfgang Vonnemann 31.03.2021
Ist der im Zusammenhang mit dem Covid-Wiederaufbau-Fonds vorgesehene „Rechtsstaatsmechanismus“ das Mittel, mit dem endlich dem Abbau des Rechtsstaates in einzelnen Mitgliedstaaten der EU wirksam begegnet werden kann?
Zweifel sind angebracht, meint der Autor, und plädiert für die konsequente Anwendung der Möglichkeiten, die das „althergebrachte“ Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258, 260 AEUV, bietet. Bei Mißachtung der Entscheidungen des EuGH ist auch die Durchsetzung finanzieller Sanktionen möglich.
Der ganze Text :
The english version
Europäische Souveränität
„Allein Europa kann tatsächliche Souveränität gewährleisten, das heißt die Fähigkeit, in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und unsere Interessen zu verteidigen. Es gilt, eine europäische Souveränität aufzubauen, und es besteht eine Notwendigkeit, sie aufzubauen.“
Das sagte Emmanuel Macron in seiner europapolitischen Grundsatzrede "Initiative für Europa" an der Sorbonne am 26. September 2017.
"Europäische Souveränität" - ein unerfüllbares Versprechen ? Oder bietet die Perspektive, die Macron aufzeigt, nicht vielmehr eine Chance für die Fortentwicklung der europäischen Integration? Lesen Sie selbst...
Chancen einer mißverstandenen Debatte.pdf (566.95KB) |
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Europäische Transferunion, das deutsche Menetekel, und wie man ihm begegnet
Zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration soll Europa Quasi-Staatsanleihen begeben können, um sein Corona-Hilfspaket zu finanzieren und EU-Mitgliedstaaten (auch) mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen unter die Arme zu greifen. Ein eigenes Besteuerungsrecht der EU ist in der Diskussion, um die europäischen Schulden zu refinanzieren.
Was für Frankreich ein historischer erster Schritt hin zu einer Transferunion ganz im Sinne der von Emmanuel Macron initiierten Debatte um den Aufbau „europäischer Souveränität“ ist, wird in Deutschland betont defensiv als eine einmalige Ausnahme in einer Krise historischen Ausmaßes beschrieben. Damit verpaßt Deutschland die Chance, die vom französischen Präsidenten gewollte Weiterentwicklung der Europäischen Union aktiv zu gestalten, und handelt damit gegen seine eigenen Interessen.
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Ein föderales Europa braucht den Nationalstaat, der Nationalstaat braucht ein föderales Europa
Wie soll Europa Aufgaben erledigen, etwa die Impfstoffbeschaffung in der Pandemie oder den Einsatz europäischer Finanzmittel in den Mitgliedstaaten der EU, angesichts des beschlossenen EU-Recovery-Funds eine hochaktuelle Frage. In zwei Kommentaren, die zufällig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in diesem Februar 2021 veröffentlicht wurden, werden zwei entgegengesetzte Wege vorgeschlagen. Nikolaus Blome plädiert in seiner Kolumne „Das Dilemma des ewigen Ja-Sagers“ für die sog. intergouvernementale Zusammenarbeit der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, während Andrea Dernbach in ihrem Tagesspiegel-Kommentar unter dem Titel „Wozu noch Nationalstaaten?“ für die direkte politische Führung eines „Europa der Regionen und Kommunen“ unter Verzicht auf die nationale Ebene wirbt.
Beide Autoren zeigen exemplarisch, wie Europa auf Dauer gerade nicht funktionieren kann, nämlich weder auf der Grundlage nationalstaatlicher „intergouvernementaler“ Zusammenarbeit noch als europäischer Zentralstaat, der die Konsequenz eines „Europas der Regionen und Kommunen“ wäre. Notwendig und realistisch ist vielmehr die Entwicklung einer europäischen Föderation durch die EU-Mitgliedstaaten.
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Bedroht eine europäische Verteidigungspolitik die transatlantische Partnerschaft mit den USA?
"Emmanuel Macrons "strategische Autonomie" für Europa, die Abkoppelung von den USA, lässt sich nur um den Preis des Zerfalls der EU erreichen. Eine Autonomie wird es nicht geben, solange sich ein beträchtlicher Teil der Nationalstaaten Europas mit amerikanischen Sicherheitsgarantien wohler fühlt als mit französischen Vorstellungen eines europäischen Superstaates."
Dies stellt Stefan Kornelius, Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, in seinem Kommentar zur außenpolitischen Agenda von Joe Biden fest.
Müssen sich die Europäer also, jedenfalls auf dem Gebiet der Verteidigung, entscheiden zwischen transatlantischer Partnerschaft mit den USA auf der einen und der Fortentwicklung der europäischen Integration bis hin zu einer europäischen Armee auf der anderen Seite? Die Antwort darauf lautet: Nein, das müssen sie nicht, weil die transatlantische Partnerschaft, an der die Europäer selbst während der Trump-Präsidentschaft zu Recht festgehalten haben, durch eine europäische Verteidigungspolitik gestärkt und nicht etwa in Frage gestellt wird
Stefan Kornelius bezieht sich zu Recht auf den französischen Präsidenten, wenn er das Ziel strategischer Autonomie für Europa ins Visier nimmt. Denn Emmanuel Macron hat, soweit ersichtlich, als erster die „strategische Autonomie“ Europas als Ziel für die weitere europäische Integration ausgegeben. Was jedoch verbirgt sich hinter diesem vieldeutigen Begriff?
Bezogen auf die Verteidigungspolitik hat Macron dazu in seiner Rede an der Sorbonne im Jahre 2017 festgestellt:
„Auf dem Gebiet der Verteidigung muß unser Ziel darin bestehen, daß Europa, ergänzend zur NATO, selbständig handlungsfähig ist.“
Der französische Präsident fordert also keineswegs, einen „europäischen Superstaat“ an die Stelle der NATO zu setzen. Er will aber Europa verteidigungspolitisch handlungsfähig machen, indem Europa aus der Summe vieler kleiner und kleinster Teile schrittweise zu einem Ganzen wird, das sehr viel mehr wäre als die Summe seiner Teile. Auf diese Weise würde das möglich werden, was die amerikanische Politik nicht erst seit Trump – zu Recht – einfordert: die Fähigkeit Europas, in sehr viel größerem Maße Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Damit würde Europa als starker Partner die USA entlasten, sie aber nicht ersetzen. Ein starkes Europa würde also dem amerikanischen Interesse deutlich mehr entsprechen als ein verteidigungspolitisch in viele Teile zersplittertes Europa, selbst wenn jedes europäische NATO-Mitglied seine Verteidigungsausgaben auf 2% seines Bruttosozialprodukts gesteigert hätte.
Wer, wie Kornelius, die Entwicklung europäischer Handlungsfähigkeit in Sachen Verteidigung gleichsetzt mit der „Abkoppelung von den USA“, der muß tatsächlich um den Zerfall der EU fürchten. Aber die Befürchtung geht ins Leere, wenn man den Aufbau einer europäischen Verteidigung als das versteht, was es ist: Europa wird verteidigungspolitisch erwachsen und entspricht damit den Forderungen, die, nach Trump, auch Joe Biden und seine Regierung – zu Recht - an Europa richten. Die Partnerschaft zwischen Europa und den USA im Rahmen der NATO würde dadurch gestärkt.
Europas Versprechen
von Dr. Wolfgang Vonnemann - 27.03.2021
Gebrochene Versprechen?
Jetzt ist sogar Christoph von Marschall, zu Recht anerkannter und geschätzter Tagesspiegel-Korrespondent, in die Falle getappt. Sein jüngster Kommentar auf Seite 1 des Tagesspiegel vom 26.03.2021 („Europas Versprechen - Die Realität als Treppenwitz“) endet mit der Feststellung: „Das Krisenmanagement „Made in Brussels“ ist hingegen ein Trauerspiel.“
Der Kommentar reiht sich ein in zahlreiche Meinungsäußerungen, die alle darauf hinauslaufen: Die EU kriegt`s nicht hin, sie hat es versemmelt, oft bezogen auf die Außenpolitik, in jüngster Zeit aus naheliegenden Gründen vor allem in Bezug auf die Bekämpfung der Pandemie. Und im Ergebnis treffen diese Meinungsäußerungen, schaut man auf das Ergebnis, sogar zu.
Beispiel: Außenpolitik:
Ja, die EU ist nicht in der Lage, Einfluß auf russische Politik zu nehmen; sie muß es sogar hinnehmen, daß „ihr Außenminister“ in Moskau vorgeführt wird. Die EU ist nicht in der Lage, die Politik Erdogans substantiell in Richtung Achtung der Menschenrechte zu beeinflussen und den türkischen Präsidenten zum Verzicht auf außenpolitische Alleingänge mit militärischer Begleitmusik zu veranlassen.
Beispiel: Corona-Pandemie
Ja, die EU hat Fehler bei der Impfstoffbeschaffung gemacht. Und es hat lange gedauert, bis das 750 Milliarden umfassende Corona-Hilfspaket vereinbart worden ist, und es dauert noch länger, bis es alle juristischen Hürden genommen hat, ja es ist, wie Christoph von Marschall zu Recht feststellt, nicht einmal sicher, ob es die notwendige Zustimmung aller 27 nationalen Parlamente erhält.
Die Kritik ist unfair, obwohl im Ergebnis zutreffend
Und obwohl die Kritik im Ergebnis berechtigt ist, ist sie in der Substanz unfair, ähnlich der Kritik gegenüber einem beinamputierten Sprinter, weil er nicht in der Lage ist, das olympische 100 Meter-Finale zu gewinnen.
Der Kommentar von Marschalls bietet eine gute Gelegenheit, dies zu illustrieren:
Die EU-Kommission hat nicht früh genug und nicht schnell genug Impfstoff beschafft, und sie hat dabei mit dem Preis auch falsche Prioritäten gesetzt. Aber: Als etwa Donald Trump bereits Impfstoff für die USA reserviert hat, konnte die Kommission noch gar nicht tätig werden, weil ihr dazu jede Kompetenz fehlte. Sie mußte also warten, bis die Mitgliedstaaten sie damit beauftragten. Und sie mußte ihre Aufgabe in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten lösen, die offenbar unterschiedliche Prioritäten gesetzt haben. Warum: Weil die EU keine eigene Kompetenz in diesem Bereich besitzt.
Das Corona-Hilfspaket ist erst nach intensiven Diskussionen geschnürt worden – wobei diese Diskussion für EU-Verhältnisse fast in einem Rekordtempo abgewickelt wurde. Und jetzt wartet die EU auf die notwendige Ratifizierung dieses Pakets durch die nationalen Parlamente.
Warum: Weil es in Europa, anders als etwa in Deutschland, keine europäische Regierung gibt, die sich auf eine Mehrheit in einem Parlament stützen kann, und die Folgen der Pandemie deshalb schnell und zielgerichtet durch ihre Fiskalpolitik bekämpfen kann.
Die Gründe benennen, warum Versprechen nicht gehalten werden können
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Natürlich darf die EU, dürfen, ja müssen die handelnden Personen kritisiert werden (können).
Aber, und das ist mein Appell an alle seriösen Meinungsmacher und Politiker:
Sagt nicht, die EU hat es versemmelt, wenn der wahre Grund für unzureichende politische Ergebnisse darin begründet liegt, daß man Europa nicht die Möglichkeit eröffnet, bessere Ergebnisse zu erzielen. Leistet nicht dem Vorurteil Vorschub, daß nationale Politik immer die bessere Lösung bietet, auch wenn es um Probleme geht, die nur gemeinsam europäisch gelöst werden können. Deutschland hat in der Pandemie-Bekämpfung ja gerade bewiesen, wie mangelhaft nationale Politik sein kann.
Sagt bitte deutlich, daß die EU, daß die europäische Integration weiterentwickelt werden muß, daß eine bundesstaatliche Organisation Europas notwendig ist, um vorzeigbare europäische Lösungen zu erzielen. Eine entsprechende Veränderung der europäischen Architektur ist natürlich keine Garantie für gute Politik, aber sie ist in jedem Fall die notwendige Voraussetzung dafür, daß Europa sein volles Potential entfalten kann.
English version: Europe`s promise Europe`s promise.pdf (484.92KB) |
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